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Früher trug man Turnschuhe, weil sie billig waren und strapazierfähig. Doch seit sich Politiker, Filmstars, Popbands oder sogar der Papst zu der neuen Laufmasche bekennen, bricht der Turnschuh sämtliche Tabus. Nicht Kleider machen Leute, sondern der Turnschuh. Niemand kümmert es, wenn man im Sporttreter zur Arbeit erscheint. In Großstädten hecheln Businessfrauen und -männer - oben in Designerkleidung gehüllt - mit dem berühmten Sportschuh durch die City, damit es schneller geht. Im Aktenkoffer hat man selbstverständlich noch ein paar Vorzeigeschuhe dabei.

Man trägt wieder Turnschuhe. Zu Anzügen, Kostümen oder zu Jeans. In den Büros sind die Supergas, Hogans oder Pumas weit aus mehr anzutreffen als für sportliche Zwecke. Kinderfüße wollen nicht mehr mit Lackschuhen geziert werden, sondern mit Sneakers, Chucks oder dem Neuesten, was z.B. Nike, Adidas oder Reebok zu bieten haben.

Übrigens - Insiderkids tragen ihre Trendschuhe in Übergröße und haben es nicht nötig, sie zu binden. Das neue Kultobjekt hat seine zweite Turnschuhgeneration - nach den wilden Siebzigern - im Stechschritt erobert. Selbst die Modemacher bleiben dem neuen Kult nicht fern. Längst schmücken Edelturnschuhe die zarten Füße der Models auf den Laufstegen. Ob Chanel, Jean-Paul Gautier oder Ralph Lauren - der Turnschuh ist nicht mehr wegzudenken.

Aber mit einem Boom wächst auch der Anspruch. Während Pheidippes noch barfuß oder gar in Sandalen nach Athen raste, um von dem großen Sieg über die Perser bei Marathon zu berichten, können heutige Turnschuhjünger zwischen "Pump"- oder "Light-Gel"- Sportschuhen wählen. Ein leises "Pfff" oder der sanfte Druck auf die integrierte Digitalanzeige in der Sohle zeichnen den Athleten der Neunziger aus.

Dabei fing 1839 mit Charles Goodyear alles so harmlos an. Er entdeckte, wie man Naturkautschuk vulkanisiert und elastischen Gummi daraus herstellte. Heinrich Franck erstellte 1868 mit Hilfe von Segeltuch, einem Stück aufgerauten Gummi, einigen Metallösen den Wegbereiter für den künftig unerlässlichen Turnschuh. Die italienische Firma Superga stellte im Jahre 1911 aus diesem Grundstein ihr weltberühmtes Modell "2750" her und war marktführend auf dem Tenniscourt. Auch heute noch ist der Klassiker "Superga" der meistverkaufte Sportschuh Europas.

Seit den Dreißigern ging es dem gängigen Turnschuh auch an die Farbe. Bisher in klassischem Weiß gehalten, nahm er nun alle Farben des Regenbogens an und veränderte auch seine Form. Gleichzeitig blühte in den letzten Jahren das Sponsoring-Geschäft auf. Für gigantische Werbeverträge in Millionenhöhe hüpfen Stars aller Kategorien über den Bildschirm, um das neue Supermodell namens "Turnschuh" der Klientel näher zu bringen.

(aus: Anette Tinzmann / Stuttg. Ztg., 09/93, gekürzt)



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