2. Kommunikative Aspekte Sylvia Platzer Wir alle sind, wenn wir kommunizieren, zahlreichen Erwartungen ausgesetzt und haben unsererseits selbst bestimmte Vorstellungen, wie sich andere verhalten oder aussehen sollten. Der Teil der Kommunikation, der ohne Sprache stattfindet, wird als nonverbale Kommunikation bezeichnet. Ruesch/Kees traf hierzu die folgende Begriffsbestimmung: Sign Language: Gesten, die die Sprache ersetzen Action Language: Bewegungen, dazu gehört auch Gehen Object Language: Artefakte wie Wohnungseinrichtungen, Kleidung, sowie der Körper selbst. 2.1. Kleider- und Körpersprache als Form von nonverbaler Kommunikation Kleidung stellt ebenso wie Gesichtsausdruck und Gestik eine wirkungsvolle Botschaft an unsere soziale Umwelt dar. Die Bedeutung entsteht aus der Wirkung, die es im Gegenüber auslöst. Die Doppeldeutigkeit von Kleidungsbotschaften ist kultur- und situationsabhängig. Die Decodierung vestimentärer Kommunikation wird von einer Vielzahl von Variablen beeinflußt, die sich im Zeitverlauf in ihrer Bedeutung verschieben. Manipulationen des Körperimage werden durch die Ideale geleitet, welche körperliche Erscheinungsweise als attraktiv gilt, oder (in anderen Gesellschaften) als bedrohend, heilig, oder sonstwie erstrebenswert. In der westlichen Gesellschaft ist Attraktivität eines der wichtigsten Kriterien für die äußere Erscheinung. Geht es bei der vestimentären Kommunikation um die Wirkung auf andere oder um narzistische Selbstdarstellung? Eine empirische Untersuchung von Hoffmann hat folgende Kodierungen für die Kleidersprache ermittelt: Sexuelle Herausforderung Hingabe Soziale Macht Soziale Schwäche 2.1.1 Mehrdeutigkeit der vestimentären Kommunikation 1. Sachebene Kleidung kommuniziert zahlreiche Botschaften auf der Sachebene. Gruppenstile oder Kleidung als visualisierte Statusdemonstration lassen Zusammengehörigkeitsgefühle mit gleichzeitigem Wunsch nach Abgrenzung von anderen 2. Der Beziehungsaspekt Auf der Beziehungsebene der interpersonellen Kommunikation nehmen vestimentär vermittelte Botschaften einen breiten Raum ein. Bei Watzlawick kann der Beziehungsaspekt nicht nur Kommunikationsintentionen bestimmen und sich auf sein Encodierungsverhalten auswirken, sondern auch direkt zum Gegenstand der Mitteilung werden. 3. Der Appellaspekt Zahlreiche appellative Möglichkeiten bieten sich durch die Kleidersprache an, wobei dies ausdrucks- und wirkungsorientiert sein kann. 2.1.2 Norm, Rolle und Status in der interpersonellen Kommunikation 1. Norm Alle Kulturen, Gruppen und Gesellschaften haben ihre speziellen Bekleidungsnormen Normverhalten unterliegt der dauernden Kontrolle durch die Gesellschaft. 2. Rollenerwartung und Rollenanforderungen Man trifft die Entscheidung, welche vestimentäre Botschaft man vermitteln will, ob Konformität oder Protestverhalten, bereits beim Einkauf und später beim täglichen Anziehen. 3. Status-Demonstration Die Kleidung hat für den Menschen eine wesentliche soziale als auch individuelle Bedeutung. 2.1.3 Evaluierung, Selektion, Segmentierung und Funktion der vestimentären Kommunikation Mit der Feststellung einer kognitiv-semantischen Dimension der Kleidung ist ihre evaluative, sowie ihre präfertentielle ästhetische Dimension noch lange nicht geklärt. Wir alle sind, wenn wir kommunizieren, zahlreichen Erwartungen ausgesetzt und haben unsererseits selbst bestimmte Vorstellungen, wie sich andere verhalten oder aussehen sollten. 2.1.4 Sozialpsychologische Aspekte der Schuhmode Mode erfordert vom einzelnen äußerste Auseinandersetzung mit der Umwelt. Das Charakeristikum der Mode ist ihr ewiger Wandel. Durch Jahrhunderte herrschte eine strenge vestimentäre Reglementierung. In der neueren Geschichte vermindert sich die Eindeutigkeit und Verständlichkeit der Kleidersprache. Das Gebot der Stunde heißt "everything goes", die Chance der individuellen Selbstgestaltung ist gestiegen. 2.2 Mit Fußbekleidung kann man verschiedene Signale setzen: Sich keine Schuhe leisten zu können bedeutet, zu den Ärmsten der Armen dieser Welt zu zählen. Schuhe haben in erster Linie eine Schutzfunktion und dienen der besseren Fortbewegung. Ohne Schuhe oder mit ungeeignetem Schuhwerk kann man meist nicht so schnell (davon)laufen. Den Menschen unterscheidet vom Tier, daß Tiere keine Schuhe benötigen. In der Zivilisation fällt man auf durch Bloßfüßigkeit. Der Schuh ist ein Symbol der Macht, weshalb wir sagen, "unter jemandes Pantoffel stehen" und "in seines Vaters Fußstapfen" treten. Die Schuhe sind der Teil unserer Kleidung, der am tiefsten unten ist, und stellen unseren Standpunkt in bezug auf die Wirklichkeit dar - wie fest wir mit den Füßen auf dem Boden stehen; wie fest die Erde uns trägt, zeigt das Maß unserer Macht an. Schuhe spielen häufig eine Rolle in Märchen. Ihnen werden Zauberkräfte zugesprochen ("Die Siebenmeilenstiefel"), sie werden mystifiziert oder personifiziert. Der "gestiefelte Kater" bekommt menschliche Züge durch seine Stiefel. Der Schuster oder Pantoffelmacher ist meist ein angesehener Mann. Im Volksbrauch werden Stiefel vom Heiligen Nikolaus mit guten Dingen gefüllt. Im Märchen "Aschenputtel" manifestiert sich der Unterschied zwischen dem Aschenputtel und seinen Stiefschwestern deutlich an einem Körperteil: an der Beschaffenheit der Füße. Aschenputtels Füße sind klein und zierlich. Sie entsprechen eher dem Klischee der Kindfrau, die Beschützerinstinkte wecken. In der chinesischen Tradition wurden den weiblichen Kleinkindern die Füße eingebunden, um deren Wachstum zu verhindern. Die daraus resultierenden verkrüppelten Füße behinderten die erwachsenen Frauen beim Gehen - dies auch im übertragenen Sinn: Die (Entwicklungs-)Schritte weg vom Eltern- und später vom Ehehafen blieben entsprechend klein und ungefährlich. Im Märchen wird über den Pantoffel, der "klein und zierlich und ganz golden" ist, der Unterschied zwischen Aschenputtels Schönheit und der Schönheit der Schwestern, die große Füße haben, im Sinne von derb, unfein, aufgezeigt. Der Zusammenhang zwischen Fußbekleidung und sexueller Attraktivität läßt sich in Werbung und Mode leicht erkennen. Ein Frauenbein in einem hochhackigen Schuh ist erotisierend. Die sexuellen Bedürfnisse der Frauen wurden über lange Zeit und in nahezu allen Kulturkreisen unterdrückt und kontrolliert. Diese Unterdrückung ist eine Folge des Prozesses, den Sigmund Freud mit seinem Satz "Die Kultur geht auf Kosten der Weiblichkeit" beschrieben hat. Die Fähigkeit zu gebären, die Fruchtbarkeit und die Nähe der Frau zum Körperlichen machten sie dem Mann im Umgang mit der Natur überlegen. Im gleichen Maße, in dem der Mann die Natur unter Kontrolle brachte, wurde auch die Frau unterdrückt. Natur, Trieb, Irrationalität, Sexualität - alles, was gefährlich, unberechenbar und unkontrollierbar schien - wurden der Weiblichkeit zugesprochen. Das Weibliche wurde abgespalten, in den Untergrund gedrängt, um es zu entmachten. Im christlichen Kulturkreis wurde die Sexualität "verteufelt". Die Sündenböcke zur Kontrolle der Sexualität wurden die Frauen. Aktiv, zielorientiert, fordernd und mächtig zu sein ist ein für Frauen tabuisiertes Verhalten. Handeln sie trotzdem so, müssen sie sich dem Verdacht der Vermännlichung aussetzen. In der Terminologie von Erich Fromm dürfen Frauen "sein". "Haben" ist für sie tabu. Forderungen für sich selbst zu stellen ist unbescheiden. Manche Frauen, die für Kleidung mehr Geld ausgeben, haben ein schlechtes Gewissen. Sich selbst etwas zu gönnen, gilt als egoistisch. Frauen strengen sich an, von ihrer Umgebung geliebt zu werden. Diese Tendenz macht innerlich und äußerlich abhängig und verhindert vermehrte Selbstbestimmung. Daß ihr Aussehen, ihr Körper und ihre erotische Anziehung ihr weibliches Machtpotential sind, ist Frauen klar. Das Tabu beginnt dort, wo Frauen ihre Weiblichkeit benutzen, um in männliches Hoheitsgebiet vozudringen. Sexuelle Attraktivität fordert man von Frauen allerdings nur im privaten, kontrollierbaren Rahmen. Erotisch zu sein ist eine Dienstleistung, die Frauen für Männer erbringen sollen, aber keinesfalls für sich selbst und ihre eigenen Ziele. So urteilen fünf Sozialwissenschaftlerinnen aufgrund einer Untersuchung zum Thema Frauen und Geld. Sprichwörtlich verwendet heißt es: "Schuster bleib bei deinem Leisten." Unheil kommt "auf leisen Sohlen". Brüskes Verhalten oder die Flucht ergreifen heißt: "Sich am Absatz umdrehen". "Das ist ein Bloßfüßiger", damit beschimpft man einen, der von nichts eine Ahnung hat. "Jemanden auf die Zehen steigen". "Jemandem Beine machen". "Auf großem Fuß leben". Schuhe können Gegenstand extremen Kaufverhaltens sein. Ein berühmtes Beispiel hiefür ist Imelda Marcos, die attraktive Gattin des ehemaligen philipinnischen Diktators. Nach ihrer Flucht ins Exil fand man ein ungeheuer große Ansammlung von Schuhen. 2.3 Schuhe sind Teil der Körpersprache Sich auf den ersten Blick ein so genaues und treffsicheres Bild vom anderen machen zu können, ist ein alter Menschheitswunsch. Man wünscht sich Urteilskraft, um die Mitmenschen zu demaskieren, zu enthüllen, zu durchschauen, um die Schutzwände aller angenommenen, angelernten und unechten Handlungen zu durchdringen. Wenn man das Rätsel lösen will, das jeder Mensch für seine Mitmenschen bedeutet, dann muß man etappenweise vorgehen: erstens Beobachtung, zweitens Betrachtung des Beobachteten und drittens die Schlußfolgerung ziehen. Die Beobachtung setzt Neugierde verbunden mit einem Hang zum Voyeurismus voraus. Weiters benötigt der ideale Beobachter Geduld und Ausgeglichenheit. Die allzu Aktiven sind keine guten Beobachter. Absolut notwendig ist auch Toleranz. Werturteile, Vorurteile, Prinzipien, Wertmaßstäbe wirken sich als Scheuklappen aus, die das Beobachtungsfeld einengen. Aversion, heftige Abneigung verzerren. Der unparteiische, objektive Beobachter existiert nicht. Der Mensch bringt seine eigenen Dimensionen ein. Seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts hat die Wissenschaft begonnen, den Menschen selbst zu erforschen. Immer noch tasten die Wissenschafter die unsichere Grenze zwischen ererbten und erworbenen Fähigkeiten ab. Es gibt keine Geste mit allgemein verbindlicher Bedeutung. Jede Kultur entwickelt ihre eigenen verbalen und nonverbalen Ausdrucksmittel. Ein einziges Indiz (z.B. Schuhe) kann zu unzähligen Hypothesen über den Benützer führen. Es besteht die Gefahr einer vorschnellen und einseitigen Interpretation, Schlußfolgerungen, die sich herleiten aus kulturellen Verschiedenheiten, aus der Person des Beobachters und aus der individuellen Geschichte des Beobachteten. Wo die Worte lügen, legt der Körper ein Geständnis ab. 2.5 Körpersprache wird durch folgende Eindrücke vermittelt: Visuelle Eindrücke wie z.B. die körperliche Erscheinung, Haltung, Bewegungen, Tempo, Gangart, Beweglichkeit, Rhythmus, Körperpflege, Kleidung, Accessoires, Gefühlsreaktionen. Gehöreindrücke dazu gehören Geräusche, die der Körper mit Hilfe von Objekten erzeugt - so kann man zum Beispiel auf leisen Sohlen daherkommen, mit Stöckelschuhen klappern oder Aufmerksamkeit durch genagelte Schuhe erregen wollen Geruchseindrücke Ledergeruch kann erotisierend sein. Schuhe können aber auch Schweißfüße bedingen. Berührungseindrücke Von zufälligen, unabsichtlichen Berührungen der Füße, bis zum auf die Zehen treten. Das Küssen der Schuhe ist eine höchst devote Geste - ähnliches symbolisieren Fußwaschungen - oder Ausdruck sexueller Vertraulichkeit. Frauen lassen sich in stärkerem Maße von der Stimme beeinflussen als Männer. Männer begeistern sich mehr für visuelle Reize. Jenseits der Körpersprache, die wir feststellen und beschreiben können, wird ein Kommunikationssystem wirksam, das sich bis heute jedem Zugriff der Beobachtung entzieht. Dies sind willkürliche und unwillkürliche Signale, die der Beobachtete aussendet. Edmund Husserl unterscheidet zwischen "Ausdruckssignalen", die etwas aussagen wollen und den "Zeichen", die nichts Bestimmtes aussagen sollen. 2.6 Zum Sozialen Verhalten (William James "Principles of Psychology"): Man kann sagen, daß jeder ebensoviele verschiedene Persönlichkeiten hat, wie es unterschiedliche soziale Gruppen gibt, deren Meinung in seinen Augen zählt. Jeder Mensch zeigt im allgemeinen jeder dieser sozialen Gruppen einen anderen Aspekt seiner selbst. Das soziale Verhalten stellt eine wesentliche und grundlegende Dimension des Menschen dar. Seine Persönlichkeit entsteht aus der endlos wiederholten Konfrontation mit dem anderen Individuum. Die Veränderungen an unserer Persönlichkeit, die wir bewußt und aus Absicht auf uns nehmen, um in verschiedenen sozialen Gruppen Eingang zu finden und uns dort einzugliedern, sind ein Kompromiß zwischen unseren Instinkten und den sozialen Forderungen der Gruppe. (Robert Ezra Park "Race and Culture"): Das Wort "Person" bedeutet in seinem ursprünglichen Sinne eine Maske. Es ist vielmehr die Erkenntnis, daß jedermann immer und überall mehr oder weniger bewußt, eine Rolle spielt. In diesen Rollen erkennen wir uns gegenseitig und erkennen wir uns selbst. In einem bestimmten Sinn - und soweit sie die Vorstellung, die wir von uns selbst haben, darstellt - ist die von uns angestrebte Rolle also unsere Maske oder unser wahres Selbst, das Ich, das wir sein möchten. Auf die Dauer wird uns die Vorstellung von unserer Rolle zur zweiten Natur und zu einem Bestandteil unserer Persönlichkeit. Wir kommen als Individuum zur Welt, wir erfinden uns Rollen, und wir werden eine Person. 2.7 Extravertiertheit und Intravertiertheit C. G. Jung hat den Extravertierten als Individuum charakterisiert, das sich stets den Standpunkt der Mehrheit aneignet. Es handelt sich zumeist um heitere Menschen, zugänglich, weltoffen, voller Interesse für Menschen und Dinge. Er hat unter anderem einen festen und freien Gang (17. Jh.: Jean de La Bruyere ind seinem Hauptwerk "Les Caracteres"). Diesem geistig-seelischen Grundtypus stellt er den "Introvertierten" gegenüber, den er als verschlossene Natur, schwer zu durchschauen und häufig mißtrauisch beschreibt. Menschliches Verhalten spielt sich zwischen den zwei Polen ab: Außenwelt und Ich. Der Introvertierte richtet sein Interesse auf die Innenwelt, auf das Ich, und kehrt sich von der Außenwelt ab. Der Introvertierte verwirft grundsätzlich den Standpunkt der Mehrheit, und zwar aus dem Grund, sich einem Modestandpunkt nicht anschließen zu wollen. Passanten auf der Straße lassen, ohne es zu wollen, durch Haltung und Gangart erkennen, wo der augenblickliche Anziehungspunkt liegt, auf den sie innerlich ausgerichtet sind. Wenn jemand sich in Anwesenheit eines anderen von einem Kleidungsstück trennt, ist das ein Zeichen für seine offene Einstellung gegenüber dem anderen. 2.8 Konformismus und Nonkornformismus Wir alle sind unablässig sozialen Zwängen ausgesetzt. Sie bestimmen unsichtbar und unausweichlich unser Leben bis in die kleinsten Einzelheiten. Wir sind eingespannt in ein dichtes Netz von Konventionen und Vorschriften. Bestimmte Menschen fühlen sich eins mit den Ansprüchen der Gesellschaft; sie assimilieren sich ihren Regeln so ohne jeden Bruch, daß sie sich mit deren Inhalten zu identifizieren vermögen. Diese Menschen unterwerfen sich sozialen Forderungen, ohne auch nur darüber nachzudenken, eben weil sie es natürlich finden; sie würden niemals den Versuch machen, sich ihnen zu entziehen. Das sind die Konformisten mit ihrem fügsamen und braven Naturell. Die Nonkonformisten stehen den Vorschriften und Sitten der Gesellschaft hingegen kritisch gegenüber. Sie fühlen sich in ihrer Unabhängigkeit beeinträchtigt und meinen, daß die ihnen aufgezwungenen Konventionen und Normen ihre Persönlichkeit, ihre Phantasie und ihre schöpferischen Fähigkeiten einschränken. Man kann sie nicht bequem dirigieren, aber die originellen Ideen und neuen Geichtspunkte, die manche von ihnen entwickeln sind oft interessant. Ganz allgemein kann man sagen, daß der Grad unserer Anpassung an die Vorschriften, nach denen wir unsere äußere Erscheinung und unser soziales Verhalten ausrichten, zugleich beweist, inwieweit wir mit der Gesellschaft, die diese Vorschriften diktiert, einverstanden sind. Die Weigerung, sich anzupassen, läßt eine ablehnende Haltung gegenüber der Gesellschaft erkennen, die viel tiefgreifender ist, als es den Anschein hat. Jemand, der sich anders kleidet als die Leute, in deren Mitte er seit jeher lebt, stellt damit zugleich die Lebensweise, Sitten, Moral und Ideologie, die diese Gruppe prägen, in Frage. Zwischen Rebellentum und Provokation einerseits und striktem Konformismus andererseits öffnet sich ein breiter Fächer von Verhaltensweisen, die Abhängigkeit und Unabhängigkeit in wechselnden Kombinationen demonstrieren. Zu den Nonkonformisten zählt man auch die Leute, die geschickt zwischen beiden Verhaltensweisen pendeln, was ihnen ein Maximum an Vorteilen verschafft. Das Mischungsverhältnis, das jeder einzelne für sich wählt, zeigt sich sehr oft im Stil seiner Kleidung und äußeren Erscheinung. Früher war der Unterschied im Geschlecht bereits im Babyalter durch die Farbe Blau oder Rosa gekennzeichnet. Heute beobachten wir eine entgegengesetzte Entwicklung: wir erleben den Triumph des Unisex, der Einheitsmode beider Geschlechter. Erscheinung, Sprachgewohnheiten und Verhaltensweisen der Jugend sind heute kennzeichnend für eine Altersklasse und nicht für das eine oder andere Geschlecht. Die Unisexmode in der Kleidung, in der Erscheinung und im Verhalten stellt uns bei der Deutung der Körpersprache vor manches Problem. Wenn ein Individuum früher einen oder mehrere typisch männliche oder weibliche Wesenszüge besonders betonte, so betrachtete man das als unwiederlegbare Beweise von Männlichkeit bzw. Weiblichkeit. Hinter Nonkonformistischer Kleidung vermutet Claude Bonnafant ein boshaftes Vergnügen, um brave, konservative Bürger herauszufordern, und genießen deren Entrüstung. Er führt die Unisexmode auf folgende Phänomene zurück: die allgemeine Protesthaltung, die Ablehnung der spezifischen Geschlechterrolle, die unser Kulturbereich vorschreibt und schließlich ein, wie er sich ausdrückt, "auf die Spitze getriebener Feminismus". Relativiert allerdings, daß in der Mehrzahl der Fälle die Frau nur erkennen lassen will, daß sie die Rolle des erotischen Objekts, das das Begehren der Männer wecken, wachhalten und erfüllen soll, von sich weist. Somit ein Ausdruck des Widerstandes gegen die traditionelle Passivität der Frauenrolle. Die Jugendlichen ziehen gegen die Rollenverteilungen unserer Zivilisationen zu Felde, die die sexuellen Verhaltensmuster festgeschrieben hat; sie kämpfen für eine Weiterentwicklung und Erneuerung dieser Rollenverteilung. Die Frage nach dem "warum" ein Mensch das tut, was er tut, die Erforschung der Verhaltensmuster von Individuen wird aus dem Kontext der Beziehungen, die geknüpft und unterhalten werden, beantwortet. Verhalten hängt von Kommunikation und Interaktion ab. Nach Watzlawick ist alles Verhalten Kommunikation. Es gibt in jeder Kommunikation viele Informationsebenen und eine davon betrifft stets die Beziehung, innerhalb der die Kommunikation stattfindet. Der Fluß kommunikativer Vorgänge besteht aus einer Serie sich überschneidender Triaden: Reiz, Reaktion und Verstärkung. 2. 9 Der Mythos der Normalität Der Mythos der Normalität beeinflußt nicht nur die Schicksale jener, die als abnormal beurteilt werden auf eine heimtückische Art und Weise, sondern auch die Lebensgewohnheiten von uns allen. Die Zweiteilung der Menschheit in Normale und Abnormale resultiert aus dem Zwang, alle menschlichen Aktivitäten zu klassifizieren. Diese Art der Klassifizierung ist ein Teil unseres Bemühens, das Leben zu vereinfachen und unsere Erfahrung mit einer schützenden Mauer zu umgeben. Je alltäglicher unsere Erlebnisse sind, desto wohler fühlen wir uns. Alles was außerhalb der täglichen Erfahrung liegt, erzeugt Angst und wird als abwegig, "zufällig, übernatürlich, verrückt" bezeichnet, damit wir nicht zugeben müssen, daß wir es ganz einfach nicht verstehen. Man bemüht sich das Verhalten und die Beobachtungen menschlicher Persönlichkeiten zu klassifizieren, denn unbekannte Kräfte, die jeder Mensch in sich hat und die zwischen den Menschen wirksam sind, erzeugen die meiste Angst und sind daher am schwersten zu beeinflussen. Wie verrückt einem eine Person erscheint, hängt vom eigenen Bezugssystem und den Grenzen der eigenen Erfahrung ab. Das Denken in Vereinfachungen ist selbst bei Fachleuten durchaus üblich. Der Schluß vom Tier auf den Menschen wird von manchen Theoretikern mit erstaunlicher Leichtigkeit vollzogen, ohne die größere Subtilität und Komplexität menschlichen Erlebens zu berücksichtigen. Die Unterscheidung zwischen normalen und abnormalen Persönlichkeiten, die in der starren Annahme zum Ausdruck kommt, die individuellen Grenzen seien festgelegt und angeboren, ist für die Menschen sehr praktisch und wird in höchst schamloser Weise für eigennützige und unmenschliche Zwecke mißbraucht. Unter der Annahme, daß es eine "normale" Person nicht gibt, sondern eine Vielzahl adaptiver Muster und Verhaltensmöglichkeiten ist die Schlußfolgerung, wie sich eine Person verhält, von der Kultur, der Subkultur, der ethnischen Gruppe und der Familie ab, in der sei lebt abhängig. Wir vergessen leicht, daß sich Werte ändern, da wir so oft neue annehmen und alte vergessen.